Gegen das „Ich, ich, ich“. Wie der neue Markenauftritt der R+V polarisiert – und in der Krise inspiriert
16. Juni 2020
Gemeinsamkeit und Vielfalt
Anja Stolz, CMO und Bereichsleitung Marketing der R+V, kam mit ihrer neuen Kampagne für die R+V zu einem Moment auf den Markt, in dem Corona die Welt und damit auch die Wertordnung der Werbung schlagartig veränderte. Was den selbstbewussten Auftritt der R+V mit dem Motto „Du bist nicht allein“ ausmacht, wie er auf Kunden wirkt und Mitarbeiter in Zeiten von Corona sogar inspiriert, darüber spricht sie in diesem Interview.
WIR: Frau Stolz, Ihr neuer R+V-Claim sagt: „Du bist nicht allein“. Woher kam die Erkenntnis, die Sie ermutigt hat, sich gegen den wahrgenommenen Egoismus in Gesellschaft und Wirtschaft zu wenden?
Anja Stolz: „Geiz ist geil“ – oder die Idealisierung der Selbstoptimierung bis hin zur Selbstinszenierung – war lange sichtbar im Fokus. Auch im Fokus der Werbung. Der grassierende Egoismus, die Globalisierung und der zunehmende Isolationismus in der Politik geben den Menschen das Gefühl, allein im Kampf aller gegen alle und nur auf sich bezogen zu sein. Doch auf jeden Trend folgt eine Gegenbewegung. 75 Prozent der Deutschen, insbesondere die Millennials, erwarten, dass sich Marken klar mit einer Haltung positionieren und sich aktiv an Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen beteiligen. Unternehmen, die nicht nur Produktbenefits verkaufen, sondern übergreifend ein Lebensgefühl und Wertesystem verkörpern und das mit persönlicher Relevanz und Mehrwert ergänzen, punkten dann auch bei ihren Leistungskennzahlen.
WIR: Sich mit einer Kampagne bewusst gegen etwas zu stellen, ist eher ungewöhnlich in der Werbung. Schließlich grenzt man damit einige Kunden auch aus ...
Anja Stolz: Unternehmerische Entscheidungen brauchen immer auch etwas Mut. Als Marke eine klare Position zu beziehen, bedeutet auch, zu polarisieren, herauszugehen aus der Deckung, einem „Einerlei“, das jeden oder gerade deshalb vielleicht auch keinen anspricht. Das haben wir sehr bewusst entschieden. Auch und gerade „gegen den Egoismus und für die Gemeinschaft“. Als genossenschaftliches Unternehmen haben wir eine klare Haltung seit fast 100 Jahren in der DNA. Die stellen wir jetzt selbstbewusster nach außen. Welches andere gewinnorientierte Unternehmen verfügt schon über eine Historie, die in einem so ausgeprägten sozialen Prinzip wurzelt? Darauf sind wir stolz. Und darauf bauen wir auf. Stück für Stück. Und 2020 mit ganz großen Sprüngen.
WIR: Wie viel Überzeugungskraft brauchte es im Unternehmen, einen Schwenk von Produktwerbung hin zu Haltungs- bzw. Markenkommunikation zu machen? Was waren Ihre schlagenden Argumente?
Anja Stolz: Ich sehe keinen solchen Schwenk und auch keinen Widerspruch. Marke entsteht durch eine klare Positionierung, ein Versprechen. Marke lebt aber nur, wenn das Versprechen auch an jedem Kontaktpunkt eingelöst wird und erlebbar ist. Nur Haltung oder nur Kommunikation bzw. Werbung dazu reichen für erfolgreiches Marketing nicht aus. Es braucht einen ganzheitlichen, strategischen Ansatz. Haltung – oder neudeutsch „Purpose“ – wirkt also erst durch gelieferte Leistung. Heißt, wir stehen als Marke oder Unternehmen für etwas, haben also eine Haltung und liefern das auch im Sinne von Taten, Serviceleistung oder Produkt. Und kommunizieren darüber. Das gehört untrennbar zusammen.
WIR: „Du bist nicht allein“ – wenn man den Claim ein wenig wirken lässt, merkt man, dass er in zwei Richtungen funktioniert. Zum einen gibt er ein Versprechen: „Wir sind für dich da.“ Aber sie nutzen ihn gerade in Zeiten von Corona auch als Appellativ: „Nimm Rücksicht.“
Anja Stolz: Richtig. Was „Du bist nicht allein“ als Botschaft noch kraftvoller macht, ist, dass wir nicht nur Position für etwas beziehen, sondern auch gegen etwas. Wird der Satz anders intoniert, erschließt sich seine zweite Bedeutungsebene. „Du bist nicht allein“ sagt dann: „Sei kein Egoist. Denk an deine Mitmenschen.“ Als Appell, sich einzureihen gegen das „Ich, ich, ich“ in unserer Gesellschaft. Beide Bedeutungsebenen klammern die große Haltung, die uns bewegt: Für das Miteinander und gegen den Egoismus des 21. Jahrhunderts. Der Satz eröffnet uns die Möglichkeit, immer wieder aktiv damit zu spielen und ihn in die eine oder andere Richtung zu nutzen.
WIR: Das haben Sie in der Corona-Krise auch getan. Mit Aufforderungen wie „Schütz die Helfer.“, „Gegen Hamsterkäufe.“ oder „Für Solidarität. Gegen Fakenews.“ zeigt die R+V klare Kante – auch auf Instagram.
Anja Stolz: Das Versprechen und die Kampagne passen gut in die Zeit. Keiner hat sich Corona gewünscht, aber Corona hat uns noch deutlicher vor Augen geführt, dass wir soziale Wesen sind, dass Zusammenhalt und aufeinander zu achten wichtig sind und keiner allein auf der Welt ist. Gerade in Krisenzeiten beweist sich ein Markenversprechen. Wir haben daher genau in dieser Zeit handfeste, passende Lösungen für unsere Kunden entwickelt, um sie eben nicht im Regen stehen zu lassen.
WIR: Gab es in den sozialen Medien Aktionen oder Reaktionen, die Sie überrascht haben?
Anja Stolz: Die Resonanz in den Social Media insgesamt war überwältigend. Wir haben in der Zeit jede Menge Fans und Follower dazugewonnen. Unsere neue Kampagne ist die meist gelikte Aktion, seit wir dort aktiv sind. Auch die Resonanz in der Presse war überwältigend.
WIR: Ist die Kampagne erfolgreich?
Anja Stolz: Wir haben mit unserem neuen Marktauftritt eine ordentliche Reichweite und Aufmerksamkeit erzielt. Wir sehen zudem bereits erste Zahlen aus der Marktforschung, die sehr ermutigend sind. Alle Markenkennzahlen sind innerhalb kürzester Zeit – schon nach dem ersten TV-Flight – angestiegen. Insbesondere die Werte „Relevant Set und First Choice“ zeigen an, dass wir auch in punkto Akquise auf dem richtigen Weg sind. Der Marktaufritt wirkt. Jetzt heißt es, diesen konsequent und nachhaltig weiterzuverfolgen und nicht gegen die Krise anzusparen. Der Mediadruck muss langfristig oben bleiben, um deutliche Erfolge einzufahren.
WIR: Wie wirkt der neue Anspruch der Marke im Unternehmen und auf Ihre Kolleginnen und Kollegen? Teilen sie die Haltung – auch jetzt in schwierigen Zeiten?
Anja Stolz: Die Kolleginnen und Kollegen identifizieren sich hierarchieübergreifend prima mit dem selbstbewussten Auftritt. Das zeigt, dass wir den Kern der Marke getroffen und gut übersetzt haben. Gerade auch während Corona hatten wir viele Bezüge zu „Du bist nicht allein“. Von der adaptierten Kommunikation über unsere „Nicht-allein-Initiative“ mit Lösungen für Vertrieb und Kunden über eine eigene Blutspende-Aktion in der R+V und der aktiv genutzten Corona-Ideen-Austauschplattform bis zur Hilfe von Kollegen für Kollegen mit #dubistnichtallein.
WIR: Wird das Versprechen auch von Bewerberinnen und Bewerbern wahrgenommen?
Anja Stolz: Der Marktauftritt ist ganzheitlich gedacht. Die Kollegen aus dem Recruiting nutzen also ebenfalls den neuen Marktauftritt in Haltung, Bilderwelten und Claim. Es gibt bereits erste Rückmeldung von Kollegen, die tolle Bewerberinnen und Bewerber gefunden haben, die rein aufgrund der neuen Kampagne auf die R+V aufmerksam geworden sind. Es freut uns natürlich sehr, dass der neue Marktauftritt auch einen Schub für unser Employer Branding gibt.
WIR: „Du bist nicht allein“ gilt ja auch für die R+V als Mitglied der DZ BANK Gruppe bzw. der Genossenschaftlichen FinanzGruppe. Wie war die Resonanz aus der Gruppe auf den neuen Markenauftritt?
Anja Stolz: Insbesondere aus der FinanzGruppe, den Primärbanken, den anderen Instituten und dem BVR gab es überwältigend gute Resonanz. Darüber freuen wir uns sehr. Als Teil der Gruppe wollen wir natürlich unseren Beitrag zu einer guten und aufmerksamkeitsstarken Positionierung des Verbunds beitragen.
WIR: Frau Stolz, vielen Dank für die Einblicke und Hintergründe Ihrer Arbeit.